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Künstliche Intelligenz verändert ganze Branchen: Was der radikale Umbruch für unsere tägliche Arbeit bedeutet.
VonFabian Graber
28.05.23
„Ich glaube nicht, dass es in fünf Jahren einen Verlag wie unseren geben wird.“ Gernot Winter beschäftigt seit Wochen eines: Wie Künstliche Intelligenz – kurz: KI – seine Branche, Wirtschaft, Gesellschaft und sein Leben verändern wird. Der 50-Jährige besitzt die Hälfte des Wiener Kleinverlags Wirl & Winter, der ein Print-Kulturmagazin und ein HR-Magazin herausgibt. Hochspezialisierte Zeitschriften, die im Abonnement vertrieben werden. Das mag in einer digitalen Welt altmodisch erscheinen – bisher hat das Unternehmen den Wandel jedoch gut gemeistert.
Doch Winter glaubt, dass tatsächlich eine neue Ära anbricht. Innerhalb weniger Wochen hätte es eine Vielzahl von Anbietern von KI-Anwendungen gegeben, die alle mehr oder weniger das Gleiche tun würden. „Die Technologie verbessert sich rasant. Was früher ein Jahr gedauert hat, wird in Zukunft einen Monat dauern. „Man kann sich vorstellen, was in zwei, drei Jahren passieren wird“, sagt Winter.
„Es herrscht einfach eine allgemeine Wild-West-Atmosphäre.“
Gernot Winter, Verlag Wirl & Winter
Winter hat die Website seines Unternehmens bereits mit einem Chatbot ausgestattet, also einem Programm, das menschliche Gespräche führen und automatisch Fragen zum Unternehmen beantworten kann. Es hat KI auch bereits für Forschungszwecke eingesetzt und zu Testzwecken wurde ein vollständig von KI verfasster Artikel veröffentlicht, natürlich mit Markup. „Es wäre verrückt, es nicht zu benutzen. „Wir werden alle lernen, mit KI zu arbeiten“, ist Winter überzeugt. Und doch: Man muss sich noch intensiv damit auseinandersetzen, um die neuen Tools zielgerichtet einsetzen zu können. Viele sind ungenau, unreif. Tatsächlich gäbe es zu ihm mehr Fragen als Antworten, wenn es um künstliche Intelligenz geht. „Es herrscht einfach eine allgemeine Wild-West-Atmosphäre“, sagt Winter.
Plötzlich gibt es eine Explosion
Das hat vor allem mit einer Anwendung, nämlich ChatGPT, zu tun – und damit vor allem mit der Sprache. Denn die letzten drei Buchstaben stehen für „Generative Pre-trained Transformers“ – also eine Technologie, die, kurz gesagt, Texte verstehen und selbst schreiben kann. Dafür wird der Transformer mit großen Textmengen trainiert. „Dieses Vortraining ermöglicht es dem Modell, Sprachmuster, Kontext und Beziehungen zwischen Wörtern zu erfassen“, schreibt ChatGPT über sich selbst.
Das ist nicht wirklich neu. Das vor acht Jahren gegründete und unter anderem vom US-Milliardär Elon Musk (Tesla, Twitter) und Microsoft unterstützte KI-Unternehmen OpenAI veröffentlichte 2018 die erste Version von ChatGPT. Es folgten mehrere Zwischenschritte, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen. Das änderte sich dramatisch, als OpenAI letztes Jahr die dritte Version von ChatGPT herausbrachte, die nach Angaben des Unternehmens bereits mit Milliarden von Sätzen trainiert wurde und den gesunden Menschenverstand teilweise nachahmen kann. Die vierte Ausbaustufe von ChatGPT ist ab sofort kostenpflichtig erhältlich.
Auf jeden Fall hat sich ChatGPT innerhalb weniger Monate zu einer der wichtigsten Plattformen im Internet entwickelt. Es wird geschätzt, dass es sich um die am schnellsten wachsende App aller Zeiten handelt. Anfang des Jahres nutzten über 100 Millionen Menschen ChatGPT. Innerhalb von nur fünf Tagen hatte die App bereits eine Million Nutzer. Nach Angaben des Beratungsunternehmens McKinsey brauchte Apple mehr als zwei Monate, um dies auf dem iPhone zu erreichen, Facebook zehn Monate und Netflix mehr als drei Jahre.
Das Ende der Menschheit?
Seit dem Aufkommen von ChatGPT ist bewiesen, dass die sich rasant verbessernde KI große Teile der zentralen Prüfung bestehen, täuschend echte Fotos erstellen und Katastrophenszenarien erstellen kann. Ein offenbar durch künstliche Intelligenz erstelltes Foto in den USA simulierte gerade einen Angriff auf das Pentagon in Washington, sodass die Aktienkurse kurzzeitig einbrachen, bis die tatsächlichen Verhältnisse klar wurden.
Und letztes Jahr sagten Hunderte von befragten Forschern, dass die Wahrscheinlichkeit, dass künstliche Intelligenz die Menschheit irgendwann auslöschen würde, bei mindestens 10 Prozent liege.
Dass aktuelle Plattformbetreiber wie ChatGPT schwer kontrollierbar sind und die Apps eine Gefahr für freiheitliche und demokratische Gesellschaften darstellen können – das hat die EU jüngst dazu veranlasst, Regeln zum Umgang mit künstlicher Intelligenz einzuführen. In Zukunft könnte es Gesetze geben, die KI-Anwendungen verbieten, „Praktiken der Manipulation, Ausbeutung und sozialen Kontrolle“ darzustellen. Das Europäische Parlament hat bereits eine entsprechende Richtlinie erlassen. Auf dem jüngsten G7-Gipfel in Japan haben die Staats- und Regierungschefs westlicher Industrieländer beschlossen, technische Standards für „vertrauenswürdige“ künstliche Intelligenz zu entwickeln, um die Technologie mit den demokratischen Werten der Länder in Einklang zu bringen. Die Regierung in Österreich will nächstes Jahr eine Behörde für künstliche Intelligenz schaffen, die auch Gütesiegel für die Technologie entwickeln könnte.
Während viele rechtliche, ethische und demokratiepolitische Fragen unbeantwortet bleiben, dringt künstliche Intelligenz bereits in viele Bereiche der Gesellschaft – und insbesondere der Wirtschaft – vor. Kleine Unternehmen wie der Verlag Gernot Winter können leichter experimentieren als Konzerne, die oft komplexen Regeln und zeitaufwändigen Verfahren unterliegen. Sie können selbst programmierte Chatbots Anfragen beantworten lassen, seitenweise Recherchen an die KI weiterleiten, um sie zusammenzufassen, und sich von Apps Inspiration für die Textstruktur holen.
Der Gründer einer Werbeagentur erzählt, dass er seit der Einführung von ChatGPT Präsentationen für seine Kunden fast ausschließlich über die App erstellt, über automatische Besprechungsprotokolle mit zugrundeliegender Spracherkennung verfügt und E-Mail-Anfragen beantwortet, ohne dass er etwas tun muss. . Oder die Architektin, die für Visualisierungen inzwischen stets eine KI-basierte App nutzt, die ihr Ideen für den ersten Entwurf liefert, mit dem sie dann weiterarbeitet.
Gerade wenn es um die Kommunikation mit der Außenwelt geht, bringt künstliche Intelligenz bereits viele Vorteile, sagt Stevan Borozan vom Beratungsunternehmen Deloitte. „Weil das eine Spannung ist. Unternehmen möchten alles automatisieren, Kunden möchten jedoch individuell betreut werden. KI hat hier einen großen Hebel: Mit KI können Sie typische Probleme schnell erkennen und darauf reagieren. Aber man hat mehr Zeit für Sonderfälle, die mehr Aufmerksamkeit erfordern.“ Das könnte heißen: Schriftliche Fragen sortieren und erst dann telefonisch kontaktieren, wenn die KI nicht weiterkommt.
Nicht alles macht Sinn
Aber auch bei großen Dokumenten kann man mit künstlicher Intelligenz viel Zeit sparen, etwa in puncto Versicherungen: Mit einem gut trainierten Chatbot findet man schnell heraus, wo Änderungen vorgenommen wurden und wo man genauer hinsehen muss , sagt Borozan, der Unternehmen vor allem in Fragen der Digitalisierung berät. Hierbei handelt es sich um nützliche sogenannte Use Cases – ein Begriff aus der Softwareentwicklung, mit dem die Anforderungen eines Systems beschrieben und verstanden werden. „Ein Anwendungsfall kann beispielsweise beschreiben, wie sich ein Nutzer in einem Online-Shop anmeldet, ein Produkt auswählt und in den Warenkorb legt, die Bestellung abschließt und schließlich die Zahlung durchführt. Jeder Schritt dieses Prozesses wird im Anwendungsfall detailliert beschrieben“, schreibt ChatGPT.
Mittlerweile gibt es Anwendungsfälle, die noch vor wenigen Monaten – wie zum Beispiel künstliche Intelligenz selbst – nur für eine Randgruppe relevant waren und mittlerweile für viele Unternehmen weit nach oben auf der Prioritätenliste gerückt sind. Zum Beispiel das Thema Energie. Nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine vor mehr als einem Jahr sind die Gas-, Strom- und Treibstoffpreise zeitweise massiv gestiegen. Dies belastet viele Unternehmen, insbesondere solche mit hohem Energieverbrauch. Energiesparen ist also angesagt und für manche schon zur Existenzfrage geworden.
Auch das Wiener Start-up nista.io sieht darin ein Geschäftsmodell. Es hat eine Software entwickelt, die auf künstlicher Intelligenz basiert, den Energieverbrauch von Unternehmen analysiert und selbstständig Empfehlungen abgibt, um die Gas- oder Stromrechnungen deutlich zu senken. „Unser Ziel ist es, mit unserer Lösung letztendlich 20 Prozent der Treibhausgasemissionen in der Industrie zu reduzieren“, sagt Anna Pölzl, Mitgründerin von nista. Unternehmen könnten mit der Software bereits zwischen fünf und 20 Prozent ihrer jährlichen Energiekosten einsparen.
Zu diesem Zweck hat das Startup-Team die KI mit physikalischen Gesetzen angereichert, die sich unter anderem auf den Energieverbrauch beziehen. Dadurch kann die Software sehr schnell erkennen, ob es Anomalien gibt – zum Beispiel, dass eine Maschine ungewöhnlich viel Strom verbraucht oder zu einer ungewöhnlichen Zeit läuft. Mithilfe von KI werden dann Empfehlungen generiert, denen Kunden folgen oder sie ablehnen können. Auch die KI lernt und soll mit der Zeit bessere Vorschläge machen. „Das Neue daran: Von der Datenerfassung über die Analyse bis hin zum Ergreifen von Maßnahmen läuft alles automatisch ab. Für die Interpretation sind keine Analysten oder Berater mehr nötig“, sagt Pölzl.
Vor der Energiekrise haben sich insbesondere kleine und mittlere Unternehmen überhaupt nicht mit Energieeffizienz beschäftigt und daher keine Strukturen geschaffen. „Viele Unternehmen wollen sich nicht damit auseinandersetzen, sondern nur wissen, was sich ändern muss.“ Deshalb verabschieden sie sich von temporären Projekten und werden versuchen, das Thema Energieeinsparung mithilfe von KI in den täglichen Betrieb zu integrieren. Deshalb gibt es die Software von nista nur im Abonnement – für rund 3000 Euro pro Jahr. Laut Pölzl hat das vor drei Jahren gegründete Start-up seit dem Markteintritt im November bereits 25 Kunden in Deutschland und Österreich gewonnen.
Diese künstliche Intelligenz erschafft etwas von selbst – ob Energiesparvorschläge, Präsentationen oder Schularbeiten: Das ist der Kern des aktuellen Technologiebooms. Bisher dient KI vor allem dazu, Daten zu analysieren und zu interpretieren und möglicherweise Entwicklungen vorherzusagen. Mit der Weiterentwicklung zur sogenannten genetischen künstlichen Intelligenz – also der Schaffung künstlicher Intelligenz – kann KI nun etwas wirklich Neues schaffen.
Auch das erzeugt Angst. Das Geschäft mit künstlicher Intelligenz wächst rasant. Einige Schätzungen gehen davon aus, dass der Markt bis 2030 jedes Jahr um ein Drittel wachsen wird.
Je tiefer Technologie in die Gesellschaft eindringt, desto mehr Arbeitsplätze könnte sie ersetzen. Hier sind sie
Millionen von Erwartungen – das Beratungsunternehmen Accenture hat für Aufsehen gesorgt, als es prognostizierte, dass branchenübergreifend bis zu 40 Prozent aller Arbeitsstunden durch Apps wie ChatGPT verloren gehen könnten. Die größten Auswirkungen hätte dies auf die Mitarbeiter von Banken, Versicherungen und Softwareunternehmen, wo viel Zeit mit verbalen Interaktionen verbracht wird – also vor allem mit Sprechen, Präsentieren und Schreiben von E-Mails.
Reichtum auf dem Spiel?
In Österreich ging der für Digitalisierung zuständige Vizeminister Florian Tursky (ÖVP) sogar so weit zu sagen, dass der Umgang mit künstlicher Intelligenz letztlich auch darüber entscheiden werde, „ob wir weiterhin Wohlstand in unserem Land und in Europa haben“.
Für Deloitte-Berater Stevan Borozan ist klar: „Trotz des revolutionären Aspekts der künstlichen Intelligenz glaube ich nicht, dass viele Arbeitsplätze verloren gehen werden.“ Aber es wird sich viel ändern.“ Oft würden sich in Unternehmen nur wenige Menschen mit künstlicher Intelligenz befassen. Sie müssen sich lediglich das Wissen und die Werkzeuge aneignen, um die Technologie richtig nutzen zu können. Viele Unternehmen werden noch zögern, insbesondere in Österreich, wo man besser abwarten sollte, was andere tun. „Es geht darum, KI langfristig im Unternehmen zu verankern“, sagt Borozan. „Jeder muss mitmachen.“
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